"In Spanien gibt es Institutionen, die keinen Platz in einer Demokratie haben"
Letztes Jahr verbrachte der UN-Sonderberichterstatter Martin Scheinin (Helsinki, Finland, 1954) eine volle Woche in Spanien und im Baskenland. Vom 7. – 14. Mai 2008 analysierte er spanische Gesetzgebung, Justiz und Gerichte. Am 9. M?rz 2009 pr?sentierte er seine Ergebnisse vor der Menschenrechtskommission der UN in Genf. Er sieht vor allem die Terrorismus-Definition, die fehlende Meinungsfreiheit, die Incommunicado-Haft und das (Sondergericht) Audiencia Nacional kritisch und machte der spanischen Regierung Vorschl?ge zur Verbesserung der Gesetze.
Martin Scheinin wurde im Jahr 2005 zum UN-Sonderberichterstatter ernannt. Seine Kernkompetenz ist die internationale Gesetzgebung zur ?ffentlichkeitsarbeit, zu Menschenrechten, sowie zu Grunds?tzen der Rechtstaatlichkeit und des Kampfes gegen den Terrorismus. Er ist Professor f?r europ?isches Recht an der europ?ischen Universit?t in Italien und Vizepr?sident der International Association of Constitutional Treaties. In den Jahren 1997 und 2004 war er Mitglied der Menschenrechtskommission und von 1998 bis 2008 Pr?sident des Menschenrechtsinstitut der Abo Akademie.
Trotz alledem versuchte die spanische Regierung, die von Martin Scheinin pr?sentierten Ergebnisse zu diskreditieren. Javier Garrigues, der Repr?sentant der spanischen Regierung, nahm wie folgt zu Scheinin und seinem Bericht Stellung:
“Er kennt weder die Realit?t des Kampfes gegen den Terrorismus, noch die Meinung der Mehrheit der spanischen Bev?lkerung noch die Grundlagen der spanischen Verfassung. Es scheint so, als ob ihm nicht einmal das Verbrechen der Verherrlichung des Terrorismus bekannt sei. Er ?ussert grundlose und nicht ?berpr?fte Kritik. Er zieht die Unparteilichkeit von Richtern und die Gewaltenteilung in Zweifel.”
Die spanische Regierung bezeichnet Ihre Definition des Terrorismus als zu eng. Was halten sie davon?
Ich bin der Meinung, die Definition des Terrorismus ist in der spanischen Gesetzgebung klar festgelegt. Aber dar?ber hinaus gibt es eine Vielzahl abgeleiteter Delikte. Damit weitet sich die Definition des Terrorismus immer weiter aus und umfasst schliesslich Delikte, die nichts mit Terrorismus zu tun haben. Ich bin der Meinung, die Anti-Terror-Gesetzgebung wird zu oft herangezogen. Einige der Themen, die von der Audiencia Nacional behandelt werden, sollten nicht dort angesiedelt sein, zum Beispiel kale borroka .
(Audiencia Nacional: Nationales, spanisches Gericht, Sondergericht f?r Terror-und Drogendelikte;
kale borroka: Gewaltt?tige Strassenproteste)
Sollte die Regierung dann die Gesetzgebung beschr?nken?
Ja, ich schlage vor, die Anti-Terror-Gesetzgebung ausschliesslich gegen echten Terrorismus zu verwenden. Die Strafgerichte k?nnen die anderen Delikte behandeln, ohne Terrorismus zu bem?hen. Kale borroka ist eine gewaltt?tige Handlung, aber kein Terrorismus. Das sind unterschiedliche Dinge.
Was ist Ihre Meinung zur Inhaftierung von Politikern, die als Resultat ihrer politischen Aktivit?t beschuldigt werden, Mitglieder einer ?terroristischen Vereinigung? zu sein oder mit einer solchen zu kollaborieren?
Es ist f?r mich sehr schwierig festzustellen, ob es daf?r Beweise gibt. Es ist sehr schwierig festzustellen, ob ein Individuum Befehle der ETA erh?lt und wie die Regierung sagt, Teil der ETA ist. Ich habe mehr Informationen im Fall politischer Parteien und Wahlplattformen. Hier bin ich der Meinung, dass der Standpunkt der Regierung zu viel umfasst. Sie geht gegen Gruppen vor, die nichts mit Gewalt zu tun haben. Dieselben politischen Ziele wie ETA zu haben, sollte nicht als Verbrechen behandelt werden und ist kein Grund f?r das Verbot einer politischen Partei, wenn es keinen Bezug zur Gewalt gibt.
Die spanische Regierung hat auf Ihren Bericht geantwortet, dass Terrorismus im Ziel und nicht im Verhalten begr?ndet sei. Was ist Ihre Meinung zu dieser Ansicht?
Diese Definition ist aus meiner Sicht v?llig falsch. Mir w?re lieber, die Regierung h?tte das nicht gesagt. Das ist die extreme Auslegung einer solchen Definition. Meiner Meinung nach muss die Defintion von Terrorismus immer im Verhalten begr?ndet sein. Es ist eine Strategie der Gewalt gegen unschuldige Menschen. Wenn wir anfangen, Gewalt durch ihre politischen Ziele zu definieren, k?nnte jede Organisation, die sich in Opposition zur Regierung befindet, als terroristisch definiert werden.
Sind Sie der Meinung, dass es Meinungsfreiheit in Spanien und im Baskenland gibt?
Es ist ein verwirrendes Bild. Spanien ist eine ungefestigte Demokratie, die viele Kritikpunkte und Ansichten akzeptiert. Gleichzeitig ist es richtig, dass die Verbote politischer Parteien und die Schliessung von Zeitungen die Meinungsfreiheit beschr?nken. Richter entscheiden, ob diese Beschr?nkungen zu akzeptieren sind oder eine Verletzung des Grundrechts darstellen. Ich bin der Ansicht, die spanische Regierung ist in einigen F?llen zu weit gegangen.
Ist Ihrer Meinung nach das Parteiengesetz ein Garant der Meinungsfreiheit?
Es ist zu weit gefasst. Es l?sst zuviel Spielraum f?r Interpretationen und stiftet letztendlich Verwirrung. Das Parteiengesetz kann gegen die Meinungsfreiheit eingesetzt werden, aber ich w?rde nicht sagen, dass dies seine spezifische Absicht ist. Das w?rde zu weit gehen. Obwohl es meiner Meinung nach Probleme machen kann, weil es zu weit gefasst ist.
Was muss die spanische Regierung ?ndern, um Meinungsfreiheit zu garantieren?
Ich habe in meinem Bericht einen Review der Strafgesetze durch einen Experten vorgeschlagen, um das Parteiengesetz zu verbessern und zu konkretisieren. Dieser Experte w?rde analysieren, wie seine Schw?chen zu beheben sind, um es weniger offen f?r Interpretationen zu lassen.
Die spanische Regierung hat klargestellt, dass sie an der Incommunicadohaft festhalten will und sie Ihre Empfehlungen ignoriert. Was denken Sie dar?ber?
Ich bin nicht der erste, der diese Massnahme fordert. Viele Menschenrechtsexperten haben ?hnliche Dinge vor mir gesagt. Die meisten L?nder haben keine ?hnlichen Praktiken. Spanien stellt sich mit dieser Haltung selbst an den Pranger. Denn solange es diese Praktiken einsetzt, werden sich andere L?nder und Menschenrechtsorganisationen sehr kritisch dazu verhalten. Ganz sicher schw?cht Spaniens Verhalten seine Verteidigung gegen?ber falschen Vorw?rfen und Anklagen von Folter. Ich habe die Abschaffung der Incommunicadohaft gefordert. Solange dies nicht passiert, sollten wenigstens die Massnahmen verst?rkt werden, die den Respekt vor den Rechten der Inhaftierten verbessern.
(Incommunicadohaft: V?llige Isolation direkt nach der Verhaftung, maximal 13 Tage. Der Gefangene ist f?r bis zu 5 Tagen ohne Kontakt zur Aussenwelt in den H?nden der Polizei, erst danach wird er einem Richter vorgef?hrt. S. hierzu auch den Bericht
“Spanien stellt sich mit dieser Haltung selbst an den Pranger” )
In seiner Verteidigung erw?hnt Spanien die Gesetzgebungen Englands und Frankreichs ?
Da gibt es einen grossen Unterschied. Andere L?nder limitieren die Wahl des Anwalts, aber man kann trotzdem einen Anwalt seines Vertrauens w?hlen, was jeden Verdacht einer Sonderbehandlung ausr?umt. Es gibt einige Spezialmassnahmen f?r den ersten Tag der Verhaftung, aber kein System der Incommunicadohaft. Hier gibt es den gr?ssten Unterschied zu Spanien. Die Mehrheit der L?nder erlaubt, direkt nach der Verhaftung einen Vertrauensanwalt zu w?hlen. Dies ist eine der n?tzlichsten Methoden gegen Polizeiwillk?r. Deshalb ist Spaniens Haltung viel gef?hrlicher als die der Mehrheit der Europ?ischen L?nder.
Was halten Sie von der Wiedereinf?hrung der Incommunicadohaft durch die Ertzaintza ?
Wie ich bereits gesagt habe, bin ich gegen diese Praxis. Sie sollte durch andere Methoden ersetzt werden. Deshalb ist diese Entwicklung keine gute Neuigkeit.
(Ertzaintza: Baskische regionale Polizei)
Was halten Sie davon, dass viele Foltervorw?rfe nicht untersucht werden?
Ich bin der Meinung, dass im Falle eines Vorwurfs von Folter das Strafverfahren ausgesetzt werden muss, bis der Vorwurf gekl?rt ist. Ich halte die Art und Weise, in der Spanien mit diesem Thema umgeht, das Verbrechen in einem Gerichtsverfahren und den Foltervorwurf in einem anderen zu behandeln, nicht f?r gut. Ausserdem werden nur sehr wenige Foltervorw?rfe tats?chlich untersucht.
Ist das der Grund, warum Sie sagen, die Audiencia Nacional kann ein Problem sein?
Ja, unter anderem, es existieren viele Gr?nde. Zum einen ist ein einziges Gericht f?r zu viele Delikte zust?ndig. Das sollte besser verteilt sein. Zum zweiten hat es von Beginn der Untersuchung an zu viel Macht und damit am Ende zu viel Kontrolle. Die Audiencia Nacional steht ?ber den Regionen. Die Berufung ist begrenzt, weil das h?here Gericht bereits von Beginn der Untersuchung an zust?ndig ist. Deshalb ist das Recht auf Berufung nicht in seiner Gesamtheit m?glich. Ausserdem f?hrt der Einfluss Madrids und die ganze Rollenverteilung dazu, dass die Untersuchung in diesem Kontext ?usserst umstritten ist. Deshalb sollte die spanische Regierung nochmals dar?ber nachdenken, ob sie nicht auch terroristische Straftaten normalen Gerichten ?bergibt.
Wie interpretieren Sie die Tatsache, dass die spanische Regierung Ihnen auf Ihre Kritik an der Audiencia Nacional entgegnet, das gehe sie nichts an?
Was soll ich dazu sagen ?? Die spanische Regierung sagt, es ist ihre Sache, Institutionen zu gr?nden und Gesetze zu beschliessen, das ist ein Teil ihrer Souver?nit?t. Meiner Ansicht nach stimmt das nicht. Als UN Sonderbeauftragter bin ich befugt, jedem Land Vorschl?ge zu unterbreiten, um ein beliebiges Gesetz zu modifizieren oder eine Institution zu gr?nden oder auch zu schliessen. Ich bin Experte internationaler Gesetzgebung mit Schwerpunkt ?Menschenrechte? und damit hervorragend bef?higt, dies zu tun. Ich mache das in vielen L?ndern, Spanien ist da keine Ausnahme. Aber selbstverst?ndlich ist klar, dass Spanien ein souver?nes Land ist und dass ich nicht das Gesetz reformiere. Ich unterbreite lediglich Empfehlungen.
Sind Sie der Meinung, die Position der spanischen Regierung zu Verbesserungen der Menschenrechtssituation geht weit genug?
Es ist eine zwiesp?ltige Position: Spanien ist auf vielen Ebenen, vor allem international, eine gute Referenz f?r die F?rderung des Dialogs zwischen L?ndern. Aber die Anti-Terror-Gesetzgebung ist problematisch; sie enth?lt zu viele Restriktionen und ausserdem hat Spanien Institutionen, die keinen Platz in einer Demokratie haben.
Was sagen Sie dazu, dass die spanische Regierung Ihren Bericht als pers?nliche Meinung kritisiert, die auf nicht ?berpr?ften Tatsachen beruhe?
Das ist nicht wahr. Ich bin ein unabh?ngiger Experte, der die Stellung der Menschenrechte in der internationalen Gesetzgebung analysiert. Ich analysiere die bestehende Gesetzgebung. Hinsichtlich der Methoden besitze ich v?llige Freiheit, Informationen aus beliebigen Quellen zu erhalten. Ich sollte darauf hinweisen, dass in meinem Bericht nichts steht, was die spanische Regierung nicht im Vorfeld gesehen hat. Ich habe ihnen meinen Bericht pr?sentiert und sie hatten Monate Zeit, ihn zu kommentieren. Am Schluss habe ich die Entscheidung, was ich in den finalen Bericht ?bernehme.
Ist es ?blich, dass Regierungen so reagieren?
Ja, ich werde immer kritisert. Intensit?t und Stil sind dabei unterschiedlich. Aber ich muss betonen, dass die diplomatischen Beziehungen, die wir aufgebaut haben, bisher gut waren. Wir hatten interessante Diskussionen. Es gibt keine Animosit?ten, nur Meinungsverschiedenheiten bei einigen Themen.
Glauben Sie, dass Spanien in Zukunft die Menschenrechtssituation verbessern wird?
Normalerweise erhalte ich eine positive R?ckmeldung. Vor allem seit dem Regierungswechsel in den USA geben viele L?nder zu, Fehler gemacht zu haben. Ich hoffe, dass Spanien sich ebenfalls in diese Richtung bewegt.
Was wird die UN tun, nachdem sie diese Anwort von Spanien auf Ihren Bericht erhalten hat?
Ich glaube nicht, dass die Menschenrechtskommission spezielle Massnahmen ergreift. Ich pers?nlich werde ein wachsames Auge auf den Fall haben.
Aber denken Sie, dass die Vereinten Nationen Massnahmen ergreifen sollten?
Sie werden nicht speziell Spanien Kontrollmassnahmen auferlegen. Das w?re nicht gerechtfertigt. Es wird nicht passieren.
Erstver?ffentlichung:
Indymedia, 19. April 2009: “Basken: Spanien stellt sich selbst an Pranger”